Eine neue æra bricht an

Die Welt braucht kein weiteres Modelabel. In einer alten Schreinerei in Bern, umgeben von einer gespannten Atmosphäre und einer Menschenmenge voller Erwartungen, entfaltet sich eine kleine Moderevolution. Das Kollektiv æra zeigt uns, dass Mode mehr sein kann als nur Kleidung. Es geht um Kreativität ohne Grenzen, Nachhaltigkeit im Rampenlicht und einen kritischen Blick auf unsere Gesellschaft.

Es herrscht eine ungewohnte Ruhe im Tripity. In der ehemaligen Schreinerei geht es normalerweise lebhaft zu und her. Die Designer*innen und Models sind bereit, um die finalen Looks zu präsentieren. Die Spannung im «Fitting Room» ist greifbar. Das Kollektiv vom Modelabel æra wartet in dem improvisierten Umkleideraum zwischen Holzspänen, frischen Holzplatten und alten Holzsägen auf die Zuschauer*innen.

Simone Müller die lieber Simi genannt wird, ist Designerin und Schneiderin von æra. Sie geht nach draussen, um einige Leute zu begrüssen. Der Gang nach draussen bringt ein gewisses Durcheinander mit sich, das Stimmengewirr der vielen Menschen ist deutlich zu hören. Sie stehen aneinandergereiht vor der Weissensteinstrasse 4 in Bern, bis zur Endstation Fischermätteli. Eine 500 Meter lange Strecke, gesäumt von Menschen voller Vorfreude und der Hoffnung, einen Platz in der alten Schreinerei zu ergattern. Simi läuft durch die Menschenmengen einzelne, die unbedingt noch einen Platz ergattern wollen sprechen sie an, «chasch mi bitte no inelah!». Es ist bereits bekannt, dass der Kulturort Tripity bei Events so viele Menschen anzieht, dass oft nicht alle eingelassen werden können. Die Plätze sind begrenzt. Auch unter Freunden gibt es hier keine bevorzugte Behandlung, denn die Regel lautet: » First come, first served.» Manche akzeptieren das, während andere verärgert reagieren. Mode- und Kunstinteressierte aus der ganzen Schweiz sind angereist, alle wollen dabei sein. Es scheint, dass diese Menschenmassen bei Simi ein gewisses Unbehagen auslösen. Was passiert mit all denen die keinen Platz bekommen? Werden sie es akzeptieren? Oder wird sich Unmut in Form eines Aufstands entladen und Beziehungen belasten?

Der Charme des Improvisierten
Es ist der 3. Oktober, 19:00 Uhr, Simi sowie Luan und Kay Palma treffen sich im Tripity zu einem Kick-Off-Meeting. Die Räumlichkeiten sind grosszügig, jedoch nicht mehr in optimalen Zustand. Dennoch verleihen die Graffitis an den Wänden und die alten Maschinen der einstigen Schreinerei dem Raum einen besonderen Charme. Gesessen wird auf dem Boden oder wackeligen Einzelstühlen – eine Szenerie des Improvisierten. Das æra-Kollektiv, bestehend aus vier Mitgliederinnen hat sich nach dem Erfolg der ersten Underground Fashion Show im Jahr 2022 dazu entschlossen, auch in diesem Jahr wieder dabei zu sein.
Im Vorfeld konnten sich Designerinnen über einen Open Call anmelden, um an der Show teilzunehmen. Auch Cesar und Emilia, die Initiatorinnen der UFS, sind anwesend. Ein gemeinsamer Atemzug durchzieht die Diskussion im Tripity: Was kann im Vergleich zum letzten Jahr verbessert werden? Was macht die UFS aus? Details werden durchgekaut – der Laufstegverlauf, die Anzahl der teilnehmenden Designerinnen. Besonderes Augenmerk liegt auf der Zuweisung von Verantwortlichkeiten. Wer wird die Beats der Designerinnen kreieren? Wer wird im Transitraum die Fäden ziehen und Models sowie Designerinnen koordinieren?
Die Essenz besteht jedoch darin, eine neuartige Modeschau zu gestalten – etwas, das bisher unbekannt ist. Die Diskussion vertieft sich in Fragen von Werten und Prinzipien, um herauszufinden, welche Botschaft die UFS vermitteln will. Etwas Nachhaltiges, das nicht nur oberflächlich wirkt, sondern zum Nachdenken anregt und neue Perspektiven aufzeigt. Models, Designerinnen und Helfende – alle sind Teil des Räderwerks, das die
Show in Bewegung setzt. Es ist ein langes Meeting, immer mehr müde Gesichter, die meisten lernten Tagsüber noch an der Uni oder haben gearbeitet.

Kreativität ohne Grenzen
Es gibt viele Modeschauen in der Schweiz, aber eine Art von Veranstaltung fehlt, meint Cesar, einer der Hauptorganisatoren. Er erklärt das Projekt UFS folgendermassen: «Zunächst einmal ist es eine Plattform für Designerinnen und Künstlerinnen, ihre
Ideen auszudrücken und ihre Kreationen zu präsentieren, ohne strenge Anforderungen an vorherige berufliche oder nicht-berufliche Arbeiten. Im Wesentlichen geht es um das Talent und die Motivation, sich vollständig in den kreativen Prozess einzubringen. Wir agieren als gemeinnützige Gruppe, und alles wird durch die kollektiven Anstrengungen und den Willen aller Teilnehmerinnen möglich gemacht. Wir sind alle Multitaskerinnen; wir gestalten nicht nur, sondern übernehmen auch organisatorische Aufgaben, pflegen und gestalten den Raum selbst und erstellen Werbematerial wie Flyer.
Es ist also wie eine kleine Schule, in der jeder lernt, was er in dieser Umgebung erreichen kann. Es ist ein fortlaufender Prozess, und unser Raum fungiert als kreatives Labor, indem du deine Projekte formen und entwickeln kannst.»

æra: Nachhaltige Mode im Rampenlicht
Wenige Wochen nach der Sitzung im Tripity, erfolgt eine Einladung zum æra-Fitting in Bern. Die Models begeben sich in das Atelier von æra in der Berner Marktgasse, die Atmosphäre ist lebhaft und kreativ, neben den geplanten Anpassungen werden auch Ideen der Models in das gemeinschaftliche Projekt integriert. Für die diesjährige Kollektion nutzt æra Ausschussware des Fussballvereins Bern Breitenrain, der sein Lager aufgelöst hat. Anstatt die hochwertige Sportkleidung wegzuwerfen, hat æra daraus eine neue Kollektion geschaffen. Simone, die Schneiderin des Kollektivs, hat die Textilien umgearbeitet, während Luan Grafiken und Logos entwickelt hat, die durch Transferdruck auf die Kleidung aufgebracht wurden. Gegründet als Maturaarbeit im Jahr 2017, hat sich æra nicht nur als Kollektiv, sondern auch die Welt insgesamt erheblich verändert, erzählt mir Luan. Es brauche keine neuen Modelabels, sondern vielmehr engagierte Menschen, die sich mit der Herstellung nachhaltiger Mode auskennen und dieses Wissen in etablierte Produktionen weitergeben. Die negativen Umweltauswirkungen sollen minimiert werden und faire Arbeitsbedingungen gewährleistet.

Upcycling und Recycling als Antwort auf die ökologische Krise
Der gesellschaftliche Wertewandel hat einen erheblichen Einfluss auf die Modebranche. Das traditionelle Paradigma, das sich hauptsächlich auf pragmatische Faktoren wie Preis, Quantität, Sicherheit und Convenience konzentriert, wird von einem neuen Wert- Paradigma abgelöst. Dieses wird stärker von «weichen Faktoren» beeinflusst, wobei die Qualität eines Produkts umfassender betrachtet wird, einschliesslich ökologischer, ethischer und sozialer Aspekte.
Die Künstlerinnen, die an der UFS teilnehmen, schaffen nicht nur Kunst, sondern erforschen gleichzeitig neue alternative Modeströmungen. Die Frage, wie und ob wir Menschen noch verantwortungsbewusst Mode schaffen können, steht im Mittelpunkt.

Die meisten Designerinnen der UFS, haben eine eindeutige Meinung zum Thema Nachhaltigkeit: Sie können nicht länger verantworten, den exzessiven Ressourcenverbrauch in der Textilindustrie zu ignorieren. Insbesondere der sehr hohe Wasserverbrauch, der vor allem in der Faserproduktion benötigt wird. Eine Möglichkeit zur Lösung besteht darin, alte Textilien zu recyceln. Luan Palma verwies auf eine schwedische Studie die fünf repräsentative Kleidungsstücke einem Lebenszyklus- Assessment unterzog, um den CO2-Fussabdruck und den Wasserverbrauch zu analysieren. Nicht überraschend zeigt sich, dass der Ressourcenverbrauch zu Beginn der textilen Kette, insbesondere bei der Stoffproduktion, überdurchschnittlich hoch ist.Dieser Bereich kann durch Upcycling, wie es bei æra praktiziert wird, effektiv eingespart werden.

Showtime
Auf einem abgenutzten Ledersofa finde ich mich inmitten der sechs Models wieder, die für æra auf den Laufsteg gehen. Einige von ihnen tragen Kopfhörer, um den Rhythmus der Musik noch einmal zu verinnerlichen. Die Nervosität ist greifbar, die Hände feucht vor Anspannung. Ein Grossteil der Designerinnen hat bereits ihre Kreationen präsentiert, und nun heisst es, geduldig zu verharren. Die Kreativität der anderen Designerinnen spricht aus den teilweise extravagant wirkenden Stücken. Dann ist es endlich soweit – Zeit, in den Transferraum auf der Parterre-Ebene zu gehen. Hier beginnen alle Models ihren Lauf. Die Musik dröhnt laut, der Boden vibriert, ob dies nun der Nervosität oder dem Bass geschuldet ist, lässt sich nicht mehr eindeutig feststellen.
Letzte Fragen ans Kollektiv zur einstudierten Choreografie, die die Models auswendig lernen mussten, damit alles synchron zur Musik passt. Der übliche Catwalk soll durchbrochen werden– die Models laufen mit einem Handy in der Hand, dessen Blitz passend zum Beat aufleuchtet. Die Köpfe sind gesenkt, auf den Bildschirm gerichtet. Die diesjährige æra-Kollektion wirft einen kritischen Blick auf unseren Handykonsum, indem sie Models als symbolische Handy-Zombies am Bahnhof inszeniert. Inmitten vom endlosen Scrollen und der virtuellen Isolation stehen die Models als Schnittstelle zwischen der digitalen und analogen Welt.
Der Moment ist gekommen in dem æra ihre monatelange Arbeit präsentieren darf, vor lauter Stolz hat Simi wässerige Augen. Und dann bevor sie es richtig realisieren können, ist die Show auch schon wieder vorbei. Die Models und das Kollektiv sind überglücklich, sie umarmen sich kurz, werden aber sogleich von Cesar zurückgerufen. Der Raum muss frei werden, Platz für die nächsten Designer.