Tsering Gonpa hat Tibetische Wurzeln, ist in der Schweiz geboren und engagiert sich als Co-Präsidentin des Vereins Tibeter Jugend in Europa (VTJE). Ich treffe Sie am 2.10.2023 im Versa Kaffee in Bern zum Interview.
Tsering, kannst du mir mehr über die Geschichte und Entwicklung des VTJE erzählen?
Der Verein entstand aus dem Willen einiger junger Tibeterinnen und Tibeter, die in der Schweiz angekommen sind, sich politisch, sozial und kulturell für ein freies Tibet einzusetzen. Es handelte sich dabei um die erste Generation, die im Exil aufwuchs, und gleichzeitig die Flucht oder sogar die illegale Besetzung miterlebte, sei es persönlich oder durch die Erzählungen ihrer Familie. Bei ihrer Ankunft in der Schweiz sahen sie die Möglichkeit, diese Bedürfnisse zu erfüllen, da sie das Recht auf freie Meinungsäusserung erhielten. Ein weiteres Bedürfnis war, sich mit anderen Tibeterinnen und Tibetern auszutauschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Die letzten 50 Jahre brachten Veränderungen, aber auch Konstanz. Strukturell gab es neue Arbeitsgruppen, die sich im digitalen Zeitalter etablierten. Die Herausforderung heute besteht darin, eine grössere aktive Mitgliederbasis zu erreichen.
Der VTJE setzt sich seit langem für die Menschenrechtslage in Tibet und ein freies Tibet ein. Auf welche aktuellen Problematiken fokussiert sich der Verein momentan?
Wir beschäftigen uns zurzeit mit den Colonial Boarding Schools, also die kolonialen Internate. Über eine Million junge Tibeter und Tibeterinnen werden dort hingeschickt, um Mandarin zu lernen, fernab von ihren Eltern. Dabei wird ihnen der Zugang zur tibetischen Sprache, Kultur und Geschichte verweigert. Der Besuch der Colonial Boarding Schools ist oft die einzige Möglichkeit für Tibeterinnen, ihren Kindern eine Ausbildung zu ermöglichen, bedingt durch die wirtschaftliche Diskrimination in Tibet. Ein weiteres Problem sind Zwangsumsiedlungen von Nomaden. Viele Tibeter lebten ursprünglich nomadisch, doch sie werden zwangsumgesiedelt, sind nun völlig abhängig und unter Kontrolle vom chinesischen Staat. Mit den Zwangsumsiedlungen erhält der chinesische Staat nicht nur Zugang zu Land, sondern auch zu den reichen Mineralvorkommen Tibets. Das Land ist mineralienreich und besonders förderlich für Lithium, das jetzt vermehrt aufgrund der Elektroauto-Expansion abgebaut wird. Tibet verfügt zudem über ein beträchtliches Süßwasserreservoir, das drittgrößte weltweit. Es gibt viele Pläne für den Bau von Dämmen. Durch den Verkauf des Süßwassers, von dem über ein Drittel von ganz Asien abhängig ist, erhält China ökonomische Vorteile und mehr Macht.
Wie könnt ihr solche Problematiken konkret bekämpfen?
Neben Lobbying-Arbeit, Podiumsdiskussionen, politischen Vorstössen, Action Camps und Solidaritätskundgebungen hat der VJTE auch einige nationale und internationale Protestaktionen und Kampagnen durchgeführt. Um so die Forderungen des tibetischen Volkes in der Öffentlichkeit zu vertreten. Eine der eindrucksvollsten Direktaktionen, an der ich persönlich teilgenommen habe, war zweifellos die «No Beijing 2022»-Kampagne. Das Ziel dieser Kampagne war klar: die olympischen Winterspiele in Beijing zu boykottieren. Höhepunkt der Kampagne war ein Bannerabwurf bei der Fackelzeremonie in Olympia, Griechenland.
Auf welche Problematiken wolltet ihr mit dieser Kampagne aufmerksam machen?
Diese Kampagne wurde vor dem Hintergrund des sogenannten «Sportswashing» ins Leben gerufen. Die Idee dahinter ist, dass Länder durch die Ausrichtung internationaler Sportereignisse versuchen, ihr Image aufzupolieren und ihre Handlungen zu rechtfertigen. Bei der Aktion in Olympia war ich nicht direkt beteiligt. Dennoch wurde ich willkürlich von der griechischen Polizei auf Anweisung der chinesischen Botschafter verhaftet.
Kannst du mehr über die Umstände deiner Verhaftung erzählen?
Wir waren mit einigen Freunden dort, darunter zwei Kollegen von anderen Organisationen aus New York und Hongkong, sowie zwei weiteren nicht-tibetischen, also weißen Kollegen, die sich ebenfalls für die tibetische Freiheitsbewegung engagieren. Wir standen auf einem öffentlichen Platz, kurz vor Olympia, und haben nichts gemacht. Keine Protestrufe, keine Tibet-Flaggen, kein Merchandise mit «Free Tibet» oder irgendwelche Slogans. Plötzlich wurden wir von einer griechischen Polizistin gefragt, was wir dort machen. Eine Kollegin erklärte, dass wir nur warten, bis die olympische Fackel angezündet wird. Die Polizistin sagte daraufhin, dass es okay sei und verschwand. Dann aber tauchte ein Polizist der chinesischen Botschaft auf, identifizierte sich, und die griechische Polizistin sagte uns postwendend, wir sollen verschwinden, weil es gefährlich sei. Wir gingen auf die Straße neben Olympia und verteilten Flyer für eine Pressekonferenz der Beijing-Kampagne in Athen, die am nächsten Tag stattfinden sollte. Wir verteilten die Flyer auch an Presseleute, von denen wir wussten, dass sie von Xinhua, der Presse des chinesischen Staates, waren. Währenddessen bemerkten wir, dass ältere ostasiatisch aussehende Männer auf der anderen Straßenseite hinter Büschen Fotos von uns machten. Als die Presseleute von Xinhua zu den griechischen Polizisten gingen und mit ihnen redeten, gesellten auch diese Männer zu den Polizistinnen und zeigten auf uns. Dann kamen mehrere uniformierte griechische Polizisten zu uns und fragten, was wir hier machten. Wir erklärten, dass wir Flyer für eine Pressekonferenz verteilten. Sie baten um unsere Ausweise. Anschliessend wurden wir mit Autos ohne Nummernschilder in eine Polizeistation gebracht. Dort mussten wir unsere Sachen zeigen, unsere Pässe abgeben und wurden von der Polizei befragt. Wir wurden ohne Angabe von Gründen festgehalten, bis zum Ende des Fackelzeremonie. Am nächsten Tag in Athen, nach unserer Pressekonferenz im Hotel, wurden wir erneut von der Polizei angehalten. Uns wurde erklärt, dass alle, die unserem äusseren Erscheinungsbild entsprechen, überprüft und von der Fackelzeremonie ferngehalten werden müssen. Die Anweisung kam von der chinesischen Botschaft, die wiederum Anweisungen vom chinesischen Staat oder dem IOC erhielt. Im Wartesaal der Polizei waren viele ostasiatisch aussehende Menschen, ältere Frauen, jüngere Kinder. Nach stundenlangen Einzelgesprächen mit den Polizisten wurden wir schließlich entlassen.
Gab es zu einem späteren Zeitpunkt eine offizielle Begründung für eure Inhaftierung?
Bis heute haben wir keine keine offizielle Begründung für die Inhaftierung erhalten. Das gilt übrigens auch für die anderen ostasiatisch aussehenden Menschen, die in derselben Station festgehalten wurden. Darunter waren Kinder und ältere Frauen. Mit einigen hatte ich gesprochen, es waren Touristen aus Frankreich und China dabei.
Du gibst an, auf Anordnung chinesischer Beamter verhaftet worden zu sein. Wie würdest du den Einfluss Chinas auf solche Ereignisse in einem europäischen Land wie Griechenland einschätzen? Es ist beunruhigend zu sehen, dass selbst in Europa, in einem demokratischen Land wie Griechenland, die Polizei und der Staat sich nicht vor der chinesischen Softpower schützen können. Die Tatsache, dass sie auf Anweisung chinesischer Botschaftspolizisten und möglicherweise des chinesischen Staates zahlreiche asiatische Menschen ohne legitimen Grund festnehmen und in die Polizeistation bringen, ist bedenklich. Dies verdeutlicht die Notwendigkeit für die internationale Gemeinschaft, sich vor der totalitären Willkür Chinas zu schützen. Das Beispiel unterstreicht, dass Chinas Einfluss keine territorialen Grenzen respektiert.
Einige Kritiker behaupten, Aktivisten wie du politisieren die Olympischen Spiele für eigene politische Ziele. Wie würdest du auf diese Kritik reagieren?
Ehrlich gesagt muss ich dazu klarstellen, dass das Internationale Olympische Komitee (IOC), indem es China, einen menschenrechtsverachtenden und autoritären Staat, zum Gastgeber der Olympischen Winterspiele ernannt hat, die Spiele selbst politisiert hat. In der heutigen Zeit ziehen Olympische Spiele, ebenso wie FIFA-Spiele, eine enorme internationale Aufmerksamkeit auf sich. Wenn man die Funktionsweisen autoritärer Staaten kennt, erkennt man, dass mediale Aufmerksamkeit, nicht nur die öffentliche Meinung ihrer eigenen Staatsbürger, sondern auch die der internationalen Zuschauer beeinflusst.
Du setzt dich mit vollem Einsatz für den Verein ein und hast dabei auch negative Erfahrungen gemacht. Was motiviert dich, trotzdem weiterzumachen?
Ich denke es sind die Emotionalen Momente, die ich mit den Vereinsmitgliedern teile. In unseren Feedback-Runden werden Visionen von einem befreiten Tibet skizziert. Eine war, dass der Dalai Lama in Lhasa aus dem Flugzeug aussteigt. Diese Vision, die die Sehnsucht nach einem freien Tibet symbolisierte, berührte mich zutiefst. Fast alle Teilnehmerinnen waren emotional stark berührt und mussten weinen. Zu sehen, dass es uns immer noch so stark betrifft, wenn wir über ein freies Tibet sprechen, motiviert extrem.
Welche Botschaft möchten Sie an Menschen senden, die sich für die Situation in Tibet interessieren, wie können sie sich engagieren? Meine Botschaft an Tibet-interessierte Menschen ist: Sprecht über Tibet. Es ist wichtig, dass möglichst viele Menschen über die Menschenrechtsverstöße in Tibet informiert sind. Wenn möglich, engagiert euch. Der VTJE bietet nicht nur Mitgliedschaften an, sondern auch Gönnerschaften. Es gibt die Möglichkeit, sich bei Kinderlagern als Lagerleitung oder Küchenhilfe zu engagieren, in Task Forces Berichte zu erstatten oder sich in der Tibet Advocacy Coalition für Tibet und die UNO ausbilden zu lassen. Es gibt verschiedene Wege, aber das Wichtigste ist, kontinuierlich über Tibet zu sprechen.